Liebe Kinder, stellt Euch doch einmal vor, Ihr wäret in einem fiktiven, angesehenen Land der Regierungschef - der "Kandesbunzler". Ihr übt diese Tätigkeit natürlich nach bestem Wissen und Gewissen aus und seid beim Volk angesehen. Alles läuft bestens, und das schon seit ein paar Jahren.
Und dann auf einmal schlägt die Nachricht ein wie der Blitz: Das höchste Gericht des Landes stellt nach mehrjähriger Prüfung fest, daß die Wahlgesetze gegen die Verfassung verstoßen, und das schon seit - sagen wir einfach mal - 1956, also seit einer Zeit, wo Ihr noch gar nicht gelebt habt. Da könnt Ihr natürlich nichts dafür. Ihr habt diese Gesetze ja nicht gemacht, und alle, wirklich alle Fachleute, Experten und Ratingagenturen haben das seit dieser Zeit immer und immer wieder übersehen. Aber was ist jetzt zu tun?
Zunächst würdet Ihr die rechtlichen Konsequenzen prüfen lassen. Und schnell steht das gesamte Ausmaß fest: wenn die Wahlen nicht richtig waren, ist auch niemand richtig gewählt worden. Aber es kommt noch schlimmer: Eure Berater erklären Euch, daß damit sogar alle Wahlen seit 1956 'nichtig' sind. Rückwirkend, na das ist ja verrückt! 'Nichtig' bedeutet für die Rechtsgelehrten, daß es so ist, als hätte es etwas nie gegeben. Dann waren natürlich alle, die seit 1956 gewählt wurden, eigentlich nicht gewählt und hätten auch gar keine Gesetze, Verordnungen usw. machen dürfen. Und schlimmer noch: automatisch sind alle diese Beschlüsse auch nichtig! Ob sie gut waren oder weniger gut, spielt dabei gar keine Rolle. So sind eben die Gesetze. Ganz schön kompliziert. Fast wie bei den Erwachsenen - die kann man ja auch nicht immer verstehen.
Und zu allem Übel teilen Euch die Rechtsgelehrten mit, daß man einen solchen Fehler auch nicht 'heilen', also im Nachhinein berichtigen kann. Das ist ein bißchen so, als ob Ihr eine Vase heruntergeschmissen habt, die man nicht mehr kleben kann, weil die Scherben schon von der Müllabfuhr entsorgt sind. Genau genommen seid Ihr also nie Kandesbunzler gewesen! Au weia! Alle Eure Vorgänger sind auch aus dem Schneider, weil ja deren Wahl 'nichtig' war. Na, und eine böse Absicht kann man denen auch nicht unterstellen, denn niemand, wirklich niemand wußte die ganze Zeit von der Nichtigkeit der Gesetze. Nur Euch hat es jetzt getroffen, denn Ihr seid ja gerade im Amt - oder eben nicht!? Es ist zum verrückt werden, aber Ihr braucht eine Lösung - und das schnell ...
Eigentlich müßtet Ihr Euren Posten sofort räumen, aber was passiert dann? Alles würde im Chaos versinken, keiner würde mehr irgendwelche Gesetze befolgen, wenn sie ihm nicht passen. Und kann die Polizei das verhindern? Vielleicht spielen die ja auch nicht mehr mit, weil sie selbst gar nicht wirksam ernannt wurden. Und nach welchen Gesetzen sollen sie denn überhaupt handeln, wenn alles 'nichtig' ist? Es ist zum verzweifeln! Was nun?
Und dann habt Ihr die rettende Idee: Schließlich wolltet Ihr immer ein guter Kandesbunzler sein, und auch jetzt könnt Ihr doch Euren Posten nicht verlassen: was nicht zu reparieren ist, muß eben neu gemacht werden! Ihr erklärt gegenüber dem Volk die Situation, wie sie ist - ganz einfach die Wahrheit! Ihr erklärt, daß Ihr die Regierung vorübergehend weiterführt, und daß bald richtige Neuwahlen stattfinden werden. Damit sind alle einverstanden, weil ja niemand ein Chaos will. Dann sorgt ihr ganz schnell dafür, daß die Wahlgesetze richtig gemacht werden, und stellt Euch selbst auch wieder zur Wahl.
Dann das Ergebnis: das Volk wählt Euch mit überwältigender Mehrheit - dieses Mal richtig. Unter dem Jubel der Massen zieht Ihr in das Regierungsgebäude ein und setzt mit Eurer richtig gewählten Regierung wieder richtige Gesetze in Kraft. Ihr habt das ganze Land gerettet, die Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten und Euch das Vertrauen der Menschen verdient. Ein riesiges Problem, und die Lösung war so einfach!
Nur wer ein schlechter Kandesbunzler ist und das Vertrauen der Menschen mißbraucht, kann sich einen solchen Schritt natürlich nicht leisten. Richtig böse Menschen würden keine Neuwahlen zulassen, schon aus Angst, sie könnten nicht wiedergewählt werden.
Ja, und wer böse und dazu noch schlau ist, der muß überhaupt keine Neuwahlen machen - wie das geht? Na, auch wieder ganz einfach: Weil er ja sowieso nur vorgetäuscht hat, das Volk könne mitentscheiden und wählen. Und die Masse der Menschen hat gar nicht gemerkelt, daß es gar kein Staat ist, der ihnen vorgegaukelt wird. Und wenn es kein Staat ist, sondern eine Firma, dann kann das 'Personal' auch höchstens einen Betriebsrat wählen. Oder habt Ihr schon einmal erlebt, daß die Angestellten die Firmenchefs wählen?
Liebe Kinder, Ihr seht, es hat schon Vorteile, kein Staat zu sein. Im Prinzip kann man dann machen, was man will, und muß auf niemanden hören, schon gar nicht auf die vielen Menschen. Und wenn doch einer sagt, das sei ja so nicht rechtmäßig, dann nennt man den ganz einfach wie? 'Verschwörungstheoretiker', oder noch einfacher 'Spinner', richtig!
Nur das Vertrauen der Menschen bekommt man auf diese Art nicht - aber das war den Bösen schon immer egal, oder?
Veröffentlicht am Dienstag, 11. September 2012