Ganz egal, ob gerade die geheimen Zugangsdaten für das Bankkonto im Café an der Ecke abgezogen wurden, der Chef beim Surfen im Internet heimlich zuschaut, oder die intimen Daten auf einer der "sozialen Plattformen" nicht mehr zu löschen sind: jeden Tag hören wir diese Aussage, die inzwischen alle kennen, und die oft mit einem "was soll's" und / oder einem dümmlichen Lächeln präsentiert wird: "ich habe doch nichts zu verbergen ..."
Gegen Transparenz ist natürlich nichts einzuwenden. Aber sollte sie dann nicht für alle gelten? Dann, und nur dann, ist Transparenz eine feine Sache. Und selbstredend muß auch das Risiko in Form von Konsequenzen für alle gleich sein, sonst macht es keinen Spaß.
Das Nichtvorhandensein von Demokratie kann man daran erkennen, daß eine solche Gleichbehandlung, vor allem vor dem Gesetz, nicht mehr stattfindet. Die Kunst der offensichtlich Privilegierten besteht also darin, dafür zu sorgen, daß sich alle anderen entblättern und offenbaren, ohne selbst etwas preiszugeben. Die Erkenntnisse daraus kann man sofort, aber auch noch viele Jahre später gegen den anderen einsetzen.
Also sollte doch der gesunde Menschenverstand sagen: Ich habe maximal so weit nichts zu verbergen, wie alle anderen sich auch offenlegen. Andernfalls gelange ich strategisch zwangsläufig in einen Nachteil. Würden Sie Karten spielen, wenn Sie Ihr Blatt offenlegen müssen, während andere Spieler es verdeckt halten? Sicher nicht. Der gesunde Menschenverstand würde aber ebenso unterscheiden zwischen Dingen, die einfach niemanden etwas angehen (im Volksmund Privatsphäre genannt), und der eigentlichen Bedeutung des Wortes ‚verbergen‘.
Nun, Sie haben vermutlich noch nicht einmal Ihren eigenen Eltern alles anvertraut. Und es stört Sie wirklich nicht, wenn jetzt wildfremde Personen alles über Sie wissen wollen? Es ist bereits skandalös erwiesen, daß diese Daten – vorsichtig ausgedrückt - nicht ausschließlich dazu eingesetzt werden, Ihr persönliches Wohlergehen zu fördern, Ihre Gesundheit zu erhalten und Ihren Besitz zu mehren. Was davon kann alles gegen Sie verwendet werden, wenn Sie einmal „unbequem“ werden sollten? Was, wenn Sie ein Musterleben geführt haben ohne jeden Fehler, aber die Gläubigkeit im Bezug auf die Datenbanken so hoch ist, daß ein einziger, gefälschter Eintrag ausreicht, um Sie komplett zu diskreditieren?
Je nach Standpunkt hat es ja auch Vorteile, und derzeit finden Sie es vielleicht noch lustig, monatelang mit Werbung zum Thema Fischfang, Boote und passende Reisen überschüttet zu werden, nur, weil Sie einen Angelhaken im Versandhandel bestellt haben für ein Späßchen zu Fasching oder als Symbol auf einer Hochzeit.
Aber aufgepaßt! Es ist ein schleichender Prozeß, der wie bei einer kleinen Mutprobe von dummen Jungs beginnt. Danach kommt man immer mehr in den Zwang, auch die weiteren Schritte mitzumachen. Aussteigen geht schon nach dem ersten Mal nicht mehr - dann hatte man ja doch etwas zu verbergen! Was also kommt als Nächstes? Hier ein paar Vorschläge für die Verfechter der totalen Offenlegung:
- Der aktuelle Kontostand des Gesamtvermögens ist jederzeit für jeden einsehbar. Auf einer Anzeigetafel neben Ihrem Briefkasten - Sie haben doch nichts zu verbergen?
- Türen abschließen, Vorhänge zuziehen, Jalousien herunterlassen? Nicht doch - oder haben Sie etwas zu verbergen?
- Sex mit Ihrem Partner ist keine Privatsache. Geschlechtsverkehr daher nur noch an Orten, wo Interessierte zuschauen können - haben Sie damit etwa ein Problem? Ach, tatsächlich?
Also gut, auch kein Problem: dann wählen wir einen kleinen Umweg, für den Sie sicherlich Verständnis haben: Durch die vorgeschlagene Maßnahme werden das Fremdgehen wie auch körperliche Mißhandlungen des Partners verhindert oder wenigstens erheblich erschwert. Das wollen Sie doch wohl unterstützen, oder gehen Sie etwa selbst fremd? Nein? Also mißhandeln Sie Ihren Partner!? Ah! Jetzt sind Sie also doch dafür. Na also - und bitte den Jugendschutz beachten!
Und jetzt beginnen Sie zu verstehen: Schon beim Gedanken an diese kleineren Zwischenschritte fühlen Sie sich richtig wohl und frei. Es geht aber noch besser. Und wenn es um unser aller Sicherheit geht, dann darf doch wirklich niemand etwas verbergen, oder? Und darum werden wir alle nackig und „gechipt“ durch die Straßen laufen, denn wir haben doch nichts zu verbergen. Dazu noch ein paar Hochleistungsscanner, die uns – gesundheitlich völlig unbedenklich - vor jedem der 82 Millionen Terroristen schützen, die ein Pfund Plastiksprengstoff geschluckt haben könnten. Nein, wir lassen uns doch nicht unsere idyllische, schöne, freie Welt zerstören. Und wer das nicht versteht und nicht mitmachen will, na der muß etwas zu verbergen haben. Und wer dann abgeholt und irgendwo interniert wird - ja ist doch klar: der hatte etwas zu verbergen!
Aber halt! Hatten wir das alles nicht schon einmal? Und waren unsere Altvorderen wirklich so verblendet oder gar unzurechnungsfähig, als sie - zum Teil unter Einsatz ihres Lebens - versucht haben, uns Grundrechte zu sichern, die den Schutz der Freiheit, der Privatsphäre, vor allem der Familie und des Eigentums, garantieren sollten? Und haben Sie dabei die Obrigkeit vorrangig als mildtätigen Samariter, oder eher als Wolf in der Schafherde gesehen? Und was müssen diese Vorkämpfer denken, wenn sie uns heute sehen, während wir diese Errungenschaften aus Dummheit vertrödeln und verramschen?
Man bekommt bekanntlich stets das, was man verdient. Und diejenigen, die heute schon „nichts zu verbergen haben“, müssen an meine Tür nicht klopfen, wenn sie morgen ihren großen Irrtum erkannt haben. Denn meine Tür steht nicht jedermann offen, und das, obwohl ich nichts zu verbergen habe. Die richtige Antwort auf die Provokation „Sie haben doch wohl nichts zu verbergen?“ lautet: „nicht mehr als Du!“. Und die Privatsphäre wird mir auch dann noch heilig sein, wenn alle Dummköpfe dieser Welt glauben, alles offenlegen zu müssen.
Wenn es wirklich nichts in Ihrem Leben gibt, das es Ihnen wert ist, vor anderen geschützt zu werden,
dann haben Sie mein Mitleid. Viel wahrscheinlicher aber sind Sie eine echte Gefahr für uns alle.
Veröffentlicht am Mittwoch, 21. August 2013